Belgische Waffel
Belgische Waffel, das klang verlockend und sah auch verlockend aus an der Theke. Nun kaue ich auf dem harten Brocken herum. Soll ich meckern? Wo ich doch schon die Hälfte von der Waffel gegessen habe. Na – es ist ja immerhin ziemlich süß. Sehr süß. Ist das die belgische Spezialität? Harte Waffel, zuckersüß? Haben die einen an der Waffel? Die Süße gewinnt immer. Die Sonne scheint mir auf den Mund, im Mundwinkel karamellisiert der Zucker.
Ich votiere für eine neue Bezeichnung für dieses Süßgebäck: Belgischer Kuchen in Waffelform, bissfest. Ich muss an ein Theaterstück denken: „The American Dream“. Darin kommt eine Oma vor, die einen Kuchenwettbewerb mit ihrem „Day-old-Cake“ gewinnt. Sie kaufte einfach einen Kuchen, ließ ihn einen Tag alt werden und reichte diesen ein. Und gewann den ersten Preis. Erfinderisch, nicht wahr? Aber nicht zu vergleichen mit meiner belgischen Waffel hier.
Warum beschwere ich mich eigentlich nie, wenn mir so etwas passiert? Warum nehme ich das einfach so hin? Schon meine Mutter erzählte, dass ich als Baby und Kleinkind einfach alles gegessen hätte, was mir angeboten wurde. Spinat mit Kartoffeln oder gelben Rüben, was auch immer für ein Brei es war, ich schluckte alles. Meine ältere Schwester hätte sich dagegen immer gesträubt. Ich jedoch machte nie Theater, ich schluckte alles ganz brav. Vielleicht hatte ich mehr Vertrauen oder es hat mir einfach geschmeckt?
Der Nachteil ist, dass ich mit dieser Strategie auch mehr an Gewicht zulegte als meine Geschwister. Meine Schwestern waren dagegen schon immer eher zierlicher und schlanker als ich. Ich gebe es jetzt – unter uns – zu, mein Vater hatte angesichts meiner Speckröllchen als Baby schon mal den Vergleich zum Michelinmännchen gezogen. Ein Quell der Heiterkeit für alle anderen, für mich dagegen ab einem gewissen Alter ziemlich peinlich.
Ich bin also diese leicht Pummelige, die jetzt in der Buchhandlung im Café sitzt und eine süße belgische Waffel zu ihrem Tee isst.
Ich schaue von hier oben auf die Fußgängerzone in Mannheim hinab, die Planken. Ich sitze im Obergeschoss, an einer langen Bartheke direkt an der verglasten Gebäudefront. Unten fährt gerade eine Straßenbahn vorbei. Tauben fliegen unter uns von einer zur anderen Seite, von Bäumen zum Boden, dann wieder zu Gebäuden oder Laternen. Sie fliegen über den Köpfen der Einkaufsbummler umher und werden von diesen kaum wahrgenommen.
Jeder zieht seine Bahnen. Die einen fliegen durch die Lüfte, die Zweibeiner flanieren zu Fuß kreuz und quer, nur die Bahn bleibt in ihrem Gleisbett. Und wir hier oben blicken herab auf das Geschehen, während hinter uns einige Kunden in Buchregalen stöbern, Bücher herausnehmen und darin blättern.
Uuuh, die letzten Bissen sind aber so richtig eklig süß, es schmeckt jetzt nur noch schwer, und komischerweise gleichzeitig süß und salzig. Was mag alles im Rezept dieser belgischen Waffeln stehen. Hoffentlich hat das für mich später kein böses Nachspiel, zuhause im grünen Salon (das WC mit den blassgrün verzierten Retrokacheln) unserer Wohnung.
Jetzt halte ich mich an meinem Rooibostee fest. Die Sonne glitzert an Glaskanne, Tasse und Untertasse in ihrem ovalen Tablett. Eigentlich mag ich keine Glastassen, aber mit dem Sonnenlicht schimmert die braune Farbe des Tees heller und transparenter. Das gefällt mir. Gegenüber sehe ich die in vielen Städten, also auch in Mannheim, immergleichen Mode-Filialen. Der Rooibos ist heiß auf der Zunge und rutscht ebenso heiß in Hals und Rachen, weiter kann ich seinen Weg nicht verfolgen.
Eben flattert wieder eine Taube vorüber. Meine Tischnachbarin geht. Fast unbemerkt von mir hat sie ihre Jacke angezogen, Geschirr zusammengestellt und sich und das Geschirr feinsäuberlich entfernt. Nun kommt schon die nächste Dame, legt ihre dunkelbraune Steppjacke über den Barhocker und stellt ihre Einkaufstüten dazu. Auf ihrem Tablett ein Muffin und eine Latte Macchiato – oder muss es ein Latte heißen? Egal, wohl bekomm’s!
Unten in den Planken fährt gerade ein Taxi vorbei, Sonderrechte. Straßenbahn von rechts, Fahrradfahrer von links. Eine Taube landet neben den Gleisen. Es ist sonnig, die Leute kaufen ein oder schwingen bunte Einkaufstaschen. EinTyp schreitet die Gleise entlang. Typ Gigolo? Mit roten Hosen, roten Schuhen, weißem Baumwollhemd und gegelten Haaren? Eine Ledertasche lässig über die Schulter geworfen. Die Sonne wandert tiefer und das Licht blendet mich fast. Während ich hier am Tee nippe und schreibe, wirft mein Stift lange dunkle Schatten. Und auch das gefällt mir. Ich fühle mich wie eine Autorin inkognito. Vielleicht Nathalie Goldberg, oder eine andere Schriftstellerin, die im Café ihre Inspirationen festhält. Das hier könnte theoretisch auch ein italienisches Lokal sein, in irgendeiner Flaniermeile, sagen wir in Padua, Roma oder Taormina. Vielleicht bin ich ja der berühmte Autor Soundso, der einen Brief an seinen Verleger verfasst – im Glanz der untergehenden Sonne. Und dazu genau so ein/eine Latte, wie meine Sitznachbarin trinkt. Passt in die Szenerie natürlich noch besser als Tee. Sie schaut sogar neugierig herüber zu mir. Schreibende Menschen in Cafés – ein ungewohnter Anblick heute? Die meisten unterhalten sich oder tippen etwas in ihr Smartphone.
Ich genieße meine Zeit im Café. Bin nicht in Belgien, nicht in Italien, sondern in einer Buchhandlung. Herrlich entspannt in der Abendsonne – wenn auch hinter Glas. Aber gerade dadurch wird es hier ja auch so warm – wie im Treibhaus oder im Wintergarten. Hier keimt der Frühling, wächst die Hoffnung auf Sommer – und ich bin versöhnt mit meiner belgischen Waffel.
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(Dies war eine Schreibaufgabe namens Notizen an einem Schreibort. Frei aufschreiben, was man im Moment an einem Schreibort sieht, erinnert, assoziiert; anschließende Überarbeitungen. Der Text entstand 2013 im Rahmen meines Fernstudiums am Instituts für Kreatives Schreiben (IKS))